Carl Benscheidt bestimmt den Wandel Alfelds
Mit dem Fagus-Werk schuf Carl Benscheidt im Jahr 1911 einen Industriebetrieb von Weltrang – hinsichtlich seiner Produkte und seines Gebäudes. Das unternehmerische Know-how des erfahrenen Industriellen Benscheidt und das künstlerische Können des jungen Architekten Walter Gropius ließen das Wahrzeichen des modernen Alfelds entstehen, das heute auf der Anwärterliste zum Unesco-Welterbe steht.
Auch weit darüber hinaus prägte Carl Benscheidt die Entwicklung seiner Wahlheimat Alfeld im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wie kaum ein zweiter. Als verantwortungsbewusster Unternehmer, innovativer Industrieller und vorausschauender Kommunalpolitiker machte er sich um die Stadt und ihre Einwohner verdient.
Geboren wurde Carl Benscheidt am 17. Januar 1858 auf Gut Othmaringhausen im Sauerland. Die Arbeit in einer Naturheilanstalt in der Nähe von Triest (heute Italien) brachte ihn in jungen Jahren mit der Forderung nach fußgerechten Schuhen und entsprechenden Schuhleisten in Berührung.
In Hannover gründete er dann eine Leisten- und Schuhmacherei. Das Angebot für den Schuhleistenfabrikanten Carl Behrens zu arbeiten, brachte Carl Benscheidt 1887 nach Alfeld, wo er bis zu seinem Tod lebte und arbeitete. Die lebensreformerischen Ideale, mit denen er sich in seiner Jugend intensiv auseinander gesetzt hatte, blieben die Grundlage für sein weiteres Handeln.
Benscheidt war einer von zahlreichen Menschen, die der Arbeit wegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Alfeld zogen. Die kleine Leinestadt befand sich in einem rasanten Industrialisierungsprozess.
Als Leiter der Schuhleistenfabrik Behrens, die mit ihren damals bis zu 600 Mitarbeitern zum zweitgrößten Arbeitgeber der Stadt wurde, bestimmte Carl Benscheidt den Wandel Alfelds von der Stadt der Ackerbürger und Händler zu einer Industriestadt entscheidend mit.
Seine Betriebsorganisation und sein Umgang mit der Belegschaft darf als vorausschauend und fortschrittlich bezeichnet werden. Licht, Sauberkeit und Übersichtlichkeit bestimmten die Fabrikationsräume. Leisten für gesundes Schuhwerk herzustellen, war Benscheidts Mission. Die Alfelder Schuhleistenindustrie erlangte unter seiner Leitung durch normierte Qualitätsprodukte eine führende Position auf dem Weltmarkt.
Angesichts des raschen Anstiegs der Bevölkerung im Zuge der Industrialisierung herrschte in Alfeld wiederholt Mangel an Wohnraum.
Benscheidt, der sich als Fabrikleiter überdurchschnittlich für das Wohl seiner Mitarbeiter engagierte, erkannte den dringenden Handlungsbedarf. Gemeinsam mit weiteren ortsansässigen Unternehmern gründete er 1899 einen gemeinnützigen Bauverein, dessen langjähriger Vorsitzender er dann war. Mit der Kolonie Buchenbrink zwischen Alfeld und Gerzen sowie der Kolonie Rodenkamp plante und realisierte der Bauverein zwei außerhalbdes damaligen Stadtgebiets gelegene Wohnsiedlungen.
Die freistehenden Ein- und Zweifamilienhäuser auf großzügigen Gartengrundstücken boten den dort wohnenden Familien hervorragende Lebensbedingungen. Nach anfänglich großer Skepsis wurden die Siedlungenauch von der alteingesessenen Bevölkerung der Stadt akzeptiert und dienten schließlich als Vorbild für zahlreiche Alfelder Wohngebiete.
Carl Benscheidt trat engagiert für die Belange der noch jungen Alfelder Industrie ein und hatte dabei sowohl die Unternehmer als auch das Wohl der Belegschaften im Blick. Die Absicherung der Interessen der lokalen Industrie und die Umsetzung seiner Reformideen gelang ihm unter anderem durch seine langjährige kommunalpolitische Tätigkeit.
Von 1903 bis 1924 war er mit einer Unterbrechung Mitglied des Bürgervorsteherkollegiums, dem Vorläufer des heutigen Stadtrates. Ab 1906 hatte er für zwei Jahre als sogenannter Wortführer den Vorsitz dieses Gremiums inne. Eine neue Wendung nahm der Lebensweg Karl Benscheidts 1910, als er auf Grund unüberwindbarer Differenzen aus der Schuhleistenfabrik Behrens ausschied und sich entschloss vis-à-vis auf der anderen Bahnseite seine eigene Fabrik zu gründen.
Hier brachte er all seine langjährigen Erfahrungen in Bezug auf Betriebsorganisation und Produktion in den Bau einer idealen Schuhleistenfabrik ein. Mit dem jungen Walter Gropius, einem Schwager des damaligen Alfelder Landrats, fand sich der passende Architekt, um dem Fagus-Werk eine innovative und werbewirksame Gestalt von hohem künstlerischen Rang zu geben.
Mit der großflächigen Öffnung der Fassaden und den charakteristischen Glasecken schuf Gropius mit seinem Kollegen Adolf Meyer ein architektonisches Markenzeichen von Weltrang. Durch die Vermittlung zahlreicher weiterer Aufträge an Künstler und Architekten aus dem Umfeld des Bauhauses brachten die Benscheidts neue Impulse nach Alfeld.
Mit dem Fagus-Werk gelang es Carl Benscheidt, nun gemeinsam mit seinem Sohn Karl, sich durch Innovationen und Verbesserungen in der Schuhleistenherstellung und im Maschinenbau auf dem Weltmarkt zu behaupten. Rasch wurde die Fabrik erweitert. Alfelds Bedeutung als Standort der holz- und metallverarbeitenden Industrie wurde gestärkt.
Bis an sein Lebensende blieb Carl Benscheidt in seiner Fabrik aktiv. Für seine Verdienste um Stadt und Industrie wurde ihm anlässlich des 25. Jubiläums des Fagus-Werkes im Jahr 1936 die Ehrenbürgerschaft der Stadt verliehen. Bereits zu seinem 70. Geburtstag war 1928 die Hauptstraße der Siedlung Rodenkamp in Benscheidtstraße umbenannt worden.
Auch die Alfelder Realschule trägt seit einigen Jahren den Namen „Carl-Benscheidt-Realschule“.
Am 31. August 1947 starb Carl Benscheidt fast 90jährig in Alfeld. Innerhalb der 60 Jahre, die er in Alfeld lebte und arbeitete, prägte er die Leinestadt und ihren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel nachhaltig.
Quelle: Text: Arne Herbote – Fotos: Karl Schünemann – erschienen in der Alfelder Zeitung vom 17.01.2008 – Artikel hier [1.996 KB] zum runterladen