Mutter, warum kommst Du wieder?
Eine Bauersfrau in Langenholzen am Fuße der Sieben Berge hatte für die Waisenkinder in Alfeld das tägliche Brot zu liefern. Sie bekam dafür ein gut Stück Geld, für das Pfund so und so viel, wie es in dem Vertrage festgesetzt war. Die Frau lieferte das Brot viele Jahre; sie wurde reich und war angesehen bei allen Leuten. Sie starb aber eines plötzlichen Todes und wurde mit allen Ehren begraben. Doch der Hügel hindert keinen Geist, und die Scholle erdrückt kein Gewissen. Um die erste Mitternachtsstunde, die auf den Beerdigungstag folgte, kehrte die Verstorbene in ihr Haus zurück, rumorte in Stube und Kammer herum und seufzte und jammerte ganz elendig bis an den Glockenschlag eins. Dann wurde es still. In der nächsten Nacht ging der Spektakel aufs neue los, und in den folgenden Nächten war´s ebenso, also daß die Hinterbliebenen der Graus durch Mark und Bein zog. Da endlich fasste sich der älteste Sohn, der Erbe des Hauses und Hofes, ein Herz und fragte: „Mutter, worümme kümmst du jiede Nacht wier?“
Es war gut, daß der Sohn diese Frage getan hatte; denn nun konnte die unglückliche Mutter ihr Gewissen entlasten. Sie antwortete, daß sie im Grabe keine Ruhe fände, weil sie die Brote für die Waisenkinder in Alfeld immer etwas kleiner gemacht hätte, als recht gewesen wäre. Für diesen Betrug an den armen Kindern müsse sie nun im Tode büßen. Schauernd fragte der Sohn: „Mutter, kann et nich mehr recht `emaket weern?“ Da antwortete der Geist, man solle den Waisenkindern das Brot nachliefern, dann würde das Unrecht wieder gutgemacht sein und er Ruhe haben. Der Sohn versprach es, lieferte den unrechtmäßig erworbenen Brotwert an das Waisenhaus zurück und tat auch sonst viel Gutes an den Kindern, die keine Eltern hatten. Da hatte der Geist der Bauersfrau Ruhe und kehrte nicht mehr zurück.
Entnommen aus Hoike „Sagen und Erzählungen aus dem Land zwischen Hildesheimer Wald und Ith“ von Wilhelm Barner, erschienen in der Schriftenreihe des Heimatmuseums Alfeld, Nr. 7