Vom Freischießen zum Heimat- und Schützenfest
Von unseren Müttern und Vätern wurde uns zu unserer Kindheit hin und wieder von einem Fest berichtet, an dem sie in ihrer Jugendzeit alle paar Jahre den regsten Anteil genommen hätten. Damals – um 1910 – war es noch üblich, dass sich befreundete Familien gegenseitig mit Kind und Kegel besuchten oder gemeinsame Ausflüge in die Wälder rund um Alfeld unternahmen. Und immer wieder hörten die Kinder, dass sich die Eltern mit ihren Freunden über jenes sagenhafte Fest unterhielten, von dem wir selbst uns keine rechte Vorstellung machten konnten.Es waren die Jahre vor und nach dem ersten Weltkrieg, von denen man sagen kann, dass sie in Alfeld eine festlose Zeit waren. Allenfalls auf den Dörfern rundum hatten wir Zeltfeste gesehen, Aufmärsche und Umzüge von Sängern, Turnern, Feuerwehren oder einstigen Soldaten, die sich in Kriegervereinen zusammengeschlossen hatten. Mochten alle diese Feste auf unsere kindlichen Gemüter auch den stärksten Eindruck machen, besonders abends, wenn auf dem Festplatz die Lichter aufleuchteten und aus den Zelten gedämpft die Blasmusik zu vernehmen war, so musste dies alles nach den Äußerungen der Eltern fast glanzlos sein gegen das, was sie selbst in ihrer Jugendzeit auf der Alfelder Hackelmasch beim Freischießen erlebt hatten.
Dieses Wort „Freischießen“ geisterte durch die Jahre, aber es war uns als jungen Menschen nie vergönnt, dieses Fest der gesamten Bürgerschaft Alfelds mitzuerleben. Ich erinnere mich, dass damals in den Familien oft davon gesprochen wurde, es müsse doch möglich sein, das 1903 zum letzten Male begangene Freischießen wieder aufleben zu lassen, zumal noch alle die am Leben seien, die es nach alter Art und uralten Brauch wieder hervorzaubern könnten. Wir hörten die Namen bekannter Bürger, die Altermänner gewesen seien, von anderen, sie seien Bäuerschaftskapitäne gewesen, und schmunzelnd berichteten die Eltern von besonders starken Männern, die, mit Bärenfellmützen und Lederschürzen bekleidet, als Sappeure mitgewirkt und für Ruhe und Ordnung gesorgt hätten. Vom Austrommeln des Freischießens kurz nach Pfingsten wurde erzählt, von dem Verschicken der Schleifen durch die jungen Damen an ihr Auserwählten, vom Damenumzug, der durch den Neuen Krug geführt habe und vom Fahnenschwenken, das eine besondere Eigenart jener Freischießen sei. Wir Kinder vernahmen dies alles, durften es mit eigenen Augen aber nicht sehen.Erst im Jahre 1934 gelang es im Überschwang neuer nationaler Empfindungen und im Drang nach Überwindung von Parteienhader und schwindendem Gemeinschaftssinn, das Alfelder Freischießen, wenn auch im Rahmen einer anderen größeren Veranstaltung, wieder ins Leben zu rufen. Und 1938 gelang es abermals, dieses historische Fest wieder durchzuführen, und wir erinnern uns jener nun alten Väter und Mütter, die uns lange von diesem Fest etwas erzählt hatten, denen nun aber angesichts des Fahnenschwenkens und des Auszuges fast der gesamten Bürgerschaft zur Festwiese auf der Hackelmasch die Tränen in die Augen standen. 1942 so hieß es damals, solle das nächste Freischießen gefeiert werden. Es wurde ein „Freischießen“ ganz anderer Art, das in jenem Jahr seinen Höhepunkt zusteuerte, ein Weltkrieg, der Europa und die Welt veränderte, insbesondere aber unser Vaterland, das in drei Teile auseinandergebrochen wurde. Es war ein Totentanz ohne Bespiel, und der Zusammenbruch schien bei seinem Ende total und endgültig zu sein.Es waren noch nicht alle Wunden des Krieges vernarbt, aber es ging wenigstens in Westdeutschland nach der Währungsreform von 1948 sichtlich wieder bergen, als sich die ersten Stimmen zaghaft vernehmen ließen, ob es nicht an der Zeit sei, sich wieder auf alte Traditionen zu besinnen, die Trauer und bittere Enttäuschung um das Erlittene abzuwerfen und sich wieder auf der Festwiese zur Feier des Freischießens zusammenzufinden.
Die ersten Besprechungen stießen auf Ja und Nein, schließlich scheiterte das Vorhaben, 1950 ein Freischießen zu veranstalten, am Widerspruch der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen und Gewerkschaften.
Die Perkbäuerschaft war es, die sich diesem Druck nicht beugte, – ausgerechnet die Perkbäuerschaft, die von alters her „das lege Viertel“ genannt wurde, weil es unter traditionellen vier Bäuerschaften (1934 erst wurde der Stadtteil Dohnsen zur fünften erhoben) die ärmste gewesen war! Es war der Elektromeister Hermann Schneider, der seine Nachbarn dazu zu begeistern verstand, für das Jahr 1950 ein „Perkfest“ zu proklamieren. Die Bewohner der übrigen Bäuerschaften sahen diesem Unternehmen ziemlich skeptisch zu.
Und dann stieg das Perkfest! Etwas Ähnliches hat Alfeld nie wieder gesehen! Es war förmlich ein Durchbruch fast der gesamten Alfelder Bürgerschaft zum Gedenken des Freischießens, und zur Ehre zahlreicher Heimatvertriebener und organisierter Gewerkschaftler sei festgestellt, dass auch sie dabei waren! Damit schien das Freischießen endgültig gerettet zu sein. Aber es hat in den folgenden Jahren nur noch zweimal stattgefunden, jedes Mal mit großem Glanz und bestem Erfolg. Aber nach 1958 ging den Alfeldern gewissermaßen die Puste aus. Offensichtlich hatten sie Angst vor der eigenen Courage bekommen. Zugegeben, dass die auf den Schultern der Verantwortlichen ruhende Last außerordentlich groß war, das Risiko in jedem Falle erheblich und der Risikoträger letztlich unbekannt. So sind denn seit dem letzten Alfelder Freischießen sieben Jahre vergangen.
Das Freischießen war tot.Im Jahr 1964 hörte man von Mitgliedern des Schießsportvereins Alfeld von 1925, der Verein begehe 1965 sein 40jähriges Bestehen und wolle es mit einem großangelegten Schützenfest nach Art der traditionsreichen Freischießens feiern. Dieser Kunde stieß auf viel Ungläubigkeit, aber im Schießsportverein war schon die Entscheidung gefallen und die ersten Vorbereitungen kamen bald in Gang.
Die steht die Stadt im Begriff, sich festlich zu schmücken, auf der Hackelmasch steht die Buden- und Zeltstadt und auch steigt unentwegt die Zahl derer, die mitmachen wollen.
Gewiss, wir werden in diesen Tagen nicht das alte Freischießen feiern, aber bewusst hat sich der Schießsportverein als Veranstalter dazu entschlossen, dem neuen Fest, das künftig im Abstand von nur wenigen Jahren regelmäßig begangen werden soll, den Namen „Alfelder Heimat- und Schützenfest“ zu geben. Und er war bemüht, alte Traditionen wieder zu beleben und an das Brauchtum des historischen Festes einzuknüpfen. So werden im Festzug der Alfelder und auswärtigen Schützen auch die Bäuerschaften wieder in Erscheinung treten, am Abend, wenn der Salut der Stadtkanone das Fest einschießt, werden kurz darauf außer den Bürger- und Schützenkönigen 1964/65 auch die Kapitäne des Freischießens 1958 vom Rathaus abgeholt und mit klingendem Spiel zum Festkommers geführt!Man war sich schon im Verlauf des Freischießens von 1958 darüber klar geworden, dass es schwer oder gar unmöglich sein würde, dieses Fest allein in der Verantwortung der Bäuerschaftsführer noch veranstalten zu können. Auch im Rat und in der Verwaltung der Stadt hatte man erkannt, dass eine neue Trägerschaft gefunden werden müsse. Der Beschluss des Schießsportvereins Alfeld von 1925, sie zu übernehmen, brachte die einzig richtige Lösung. So wird Alfeld zwar nicht sein althergebrachtes Freischießen begehen, aber doch ein Fest, das sich in seinem Geist und Inhalt an die Tradition anschließt und der Bürgerschaft das Bewusstsein gibt, wieder ein Volksfest zu besitzen. Dafür, dass es so ist, müssen wir dem Schießsportverein und seinen verantwortlichen Männern und Frauen dankbar sein. Das Heimat- und Schützenfest wird, daran ist nicht zu zweifeln, für den veranstaltenden Verein ein Erfolg werden, ein Erfolg auch für ein nun wachsende Popularität, die er bisher nicht in dem erwünschten Maße besessen hat. Es liegt allein an unserer Bürgerschaft und insbesondere an der Jugend, ob dieses Fest auch ein Erfolg für sie und für unsere Heimat wird! Der wirtschaftliche und soziale Fortschritt unserer Zeit hat viele Standesschranken eingerissen, ohne dass man sagen könnte, das Gemeinschaftsgefühl sei dadurch gestärkt worden. Es kann dort nicht wachsen, wo es über mancherlei wirkliche und eingebildete Gegensätze hinweg nicht zu großen Gemeinschaftsveranstaltungen kommt. Es geht dabei nicht so sehr um die Erhaltung uralter Überlieferungen, die sich zum Teil nur schlecht in unsere neue Zeit einfügen lassen, als um die Förderung des Bewusstseins der Zusammengehörigkeit aller in einem Gemeinwesen, das unser Eigentum und Schicksal ist.
Quelle: Karl Granzow – Alfelder Zeitung vom 20.08.1965 „Vom Freischießen zum Schützenfest“