Alfelds traditionsreiches „Freischießen“
Das bedeutendste Fest der Alfelder Bürgerschaft war durch Jahrhunderte das Alfelder Freischießen, das nach rund dreißigjähriger Pause zum ersten Male 1934 wieder begangen wurde, vor dem zweiten Weltkrieg noch einmal eine glanzvolle Auferstehung hatte und nach dem Krieg zum ersten Male am 11., 12. und 13. August 1951 die Bürgerschaft auf dem Marktplatz und auf der traditionsreichen Hackelmasch vereint sah.
Vorausgegangen war das „Perkfest“, das schließlich erst den anderen vier Bäuerschaften und den Junggesellen den Mut gab, das „Freischießen“ wieder durchzuführen. Vom 02. bis 04. August 1958 wurde das letzte Freischießen unter riesiger Beteiligung veranstaltet — aber es fand sich dann niemand mehr, der bereit war, die mit dem Fest verbundenen Lasten und die große Verantwortung zu tragen. Die neue Zeit ließ die Bereitschaft junger Bürger verschwinden, jene Arbeit auf die Schultern zu nehmen, die die Vorbereitung und Durchführung eines so großen, die gesamte Bürgerschaft erfassenden Festes erfordert. So muss denn leider befürchtet werden, dass es unseren Tagen vorbehalten blieb, die Freischießen-Tradition untergehen zu lassen, — ausgerechnet in einer Zeit, in welcher es mehr denn je darauf ankommt, bürgerlichen Gemeinschaftsgeist zu stärken und zu bekunden, dass wir nicht nur gemeinsam arbeiten und verdienen, sondern nach Überwindung der Klassen- und Standesunterschiede im modernen Wohlfahrtsstaat auch gemeinsam feiern wollen!
Das erste Heimat- und Schützenfest 1965 des 40jährigen Schießsportvereins Alfeld von 1925 will jedoch an die alte Tradition anknüpfen und hat sich in Verhandlungen mit den fünf Bäuerschaften der Stadt (sie stehen eigentlich nur noch auf dem Papier, haben also praktisch kaum noch Bedeutung!) und mit den übrigen Vereinen alle Mühe gegeben, die Voraussetzungen für ein richtiges Volksfest zu schaffen.
Gerade darum sei es gestattet, Erinnerungen an das alte Alfelder Freischießen zu wecken in der Hoffnung, dass sie zu einer regen Beteiligung an den Heimat- und Schützenfesten beitragen.
In seiner „Geschichte der Stadt Alfeld“, erschienen 1894, schreibt der unvergessene Seminarlehrer Wilhelm Heinze, nach dem die Heinzestraße in Alfeld benannt ist, in dem Kapitel „Die Gewerksinnungen“ über die Geschichte des Alfelder Freischießens u. a.: „Die Zünfte hatten im Mittelalter auch eine militärische Aufgabe. Sie bildeten, nachdem sie die Gleichberechtigung mit den ratsfähigen Geschlechtern sich erkämpft hatten, den Kern der Bürgerschaft und ihnen lag darum vor allem in Kriegsnöten die Verteidigung der Stadt ob. Weil aus den Waffendiensten der Alfelder Bürger sich unser schönstes Volksfest, das Freischießen, entwickelt hat, so möge hier darüber einiges folgen.
Die Bewaffnung der Bürger bestand noch im 14. und 15. Jahrhundert aus einem eisernen Hute oder aus einer sogenannten Haube, einem stark gefütterten Leibrock, aus einem leichten Blechharnisch oder Panzer von Draht und in eisernen Handschuhen. Oft wurde die Bewaffnung nach dem Vermögen eines jeden Zunftgenossen bestimmt; danach sollten manche den ganzen Harnisch tragen oder einen Panzer, ein Beingewand, die Ärmeren begnügten sich an dem kleinen Harnisch. Bei den Bäckern richtete sich die Ausrüstung nach der Zahl der Schweine, die sie hielten. Wer mehr als vier hatte, musste den ganzen, wer weniger, den kleinen Harnisch stellen.
Als Waffen dienten ursprünglich die Armbrust und die Lanze, die sich nach und nach in die Hellebarde, die Pike, den Spieß, wandelte. Als die Feuerwaffen im 15. Jahrhundert in Gebrauch kamen, traten zu den älteren „Stahl- und Rüstungsschützen“ die jüngeren Bogenschützen.
Im Laufe der Zeit erlitten aber die Waffenübungen der Alfelder mit der Veränderung des Kriegswesens und dem allmählichen Aufkommen stehender Heere eine wesentliche Änderung, insofern sich ihr ursprünglicher Zweck, die Bürger für den Krieg tüchtig und geschickt zu machen, allmählich verwischte oder wenigstens in den Hintergrund trat gegen das persönliche Interesse, das sie dem Teilnehmer gewährten.
Seit Ausgang des 16. Jahrhunderts erhielt Alfeld unter den braunschweigischen Landesherren eine stehende Besatzung von einem Hauptmann, zwei Lieutenant und 80 bis 100 Mann Fußvolk, die in erster Linie die Verteidigung der Stadt zu übernehmen hatte, und nun bildete sich aus den ernsten Waffenübungen der Bürger das der allgemeinen Volksbelustigung dienende „Freischießen“.
Eigentümlich aber blieb dem Alfelder Freischießen, dass dasselbe nicht, wie sonst wohl in anderen Städten, von einer besonderen Schützengesellschaft oder Schützengilde, die in der Regel ihr eigenes Schützenhaus besitzt, abgehalten wurde, sondern stets wie in ältester Zeit unter der allgemeinen Beteiligung der gesamten Bürgerschaft stattfand; es blieb also ein Volksfest im wahren Sinne des Wortes.
In seiner äußeren Form hat sich das Freischießen von alter Zeit bis auf den heutigen Tag (1894) ziemlich unverändert erhalten.
So versammelte sich, sobald die Trommeln durch die Straßen rasselten, das aus der waffenfähigen Jugend der ganzen Stadt gebildete Schützencorps vor dem Hause seines Führers und eilten die bewaffneten Bürger der einzelnen Bäuerschaften nach der Wohnung ihres Altermanns, ihrem Sammelplatz. Von hier wurden sie nach dem Marktplatz geführt, wo sich der Zug ordnete und die einzelnen Bäuerschaften und die jungen Schützen von dem Rat ihre Fahnen empfingen. Die Leinebäuerschaft führte die weiße, die Hörsumer Bäuerschaft die karmesinrote, die Holzer Bäuerschaft die gelbe und die Perkbäuerschaft die blaue Farbe. (Anmerkung: 1894 gab es die Dohnser Bäuerschaft noch nicht, sie trat erstmalig bei dem Freischießen von 1934 in Erscheinung.)
Die jungen Schützen erhielten stets eine feuerrote Fahne. Sobald die Fähnriche im Besitz ihrer Fahnen waren, traten sie frei vor ihre Mannschaften und führten unter den Klängen der Musik das Fahnenspiel, das Fahnenschwenken, auf, das noch heute alt und jung entzückt. An die Spitze des Zuges stellte sich nun der Rat der Stadt, dem das Schwert als Zeichen der höchsten Gerichtsbarkeit über Leben und Tod, die der Stadt Alfeld bis zur westfälischen Fremdherrschaft (Napoleon) zustand, vorangetragen wurde.
Vor den jungen Schützen marschierten die Scheibenträger, denen die sechs Kränze für die sechs „besten Männer“, von zwölf weißgekleideten und mit Kränzen geschmückten Mädchen getragen, folgten. Vier junge Schützen begleiteten sie. Durch die festlich geschmückten Straßen der Stadt bewegte sich der Zug nach der Festwiese, wo das Schießen nach festen Vorschriften des „Schützenbriefes“ stattfand, aber auch Tanz und Spiel, von den Schaffern geordnet und überwacht, in den Zelten der Bäuerschaften und der jungen Schützen die Alfelder ergötzten.“ —
Wilhelm Heinze berichtet dann noch über weitere Einzelheiten des Festes und davon, dass das Alfelder Freischießen bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges (1618) regelmäßig in jedem Jahr gefeiert wurde, nach dieser schweren Zeit aber nur alle drei bis vier Jahre, in Zeiten großer äußeren Bedrängnis, während des Siebenjährigen Krieges und während der westfälischen Fremdherrschaft, das Fest aber ganz vergessen wurde und nach 1820 erst zu neuem Glänze wieder aufwachte.
Den weitaus meisten Alfeldern sind die beiden nach dem zweiten Weltkrieg außer dem Perkfest begangenen Freischießen noch in bester Erinnerung, sie wissen, dass es sich um ausgesprochene Volks- und Heimatfeste gehandelt hat. Sie erinnern sich noch der Aufmärsche auf dem Marktplatz mit dem traditionellen Fahnenschwenken und der glanzvollen Ausmärsche der fünf Bäuerschaften und der Junggesellen, der schmucken Kapitäne und Offiziere, der mitgeführten Stadtkanone, der Schwertträger und der stämmigen Sappeure, der festlich gekleideten Alfelder Damen, nicht zuletzt aber auch des traditionellen Damenzuges am Festmontag und des Alfelder Nationaltanzes, des „Tilittentititts“, der immer ausgelassene Heiterkeit in die Menge brachte.
Nicht nur ganz Alfeld war auf den Beinen, sondern auch aus der Umgebung strömten am Festsonntag Tausende von Menschen in die Kreisstadt, um den einzigartigen Festzug zu sehen, der in Niedersachsen kaum seinesgleichen hatte. Während der Festtage gab es in alten und neuen Zeiten keine Standes- und Rangunterschiede. Alle machten mit, um ein Fest im fantastischen Sinne zu erleben, von dem Goethe sagt: „Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!“ Tatsächlich hat in vergangenen Zeitläuften dieses alle drei bis vier Jahre begangene Freischießen die Bürgerschaft Alfelds immer wieder zusammengeführt, das Zusammengehörigkeitsgefühl und den Gemeinschaftssinn gefördert.
Das alles scheint nun ein für allemal der Vergangenheit anzugehören, und darum ist es von Herzen zu begrüßen, dass der Schießsportverein Alfeld von 1925 e. V. wieder an die ehrwürdige Freischießen-Tradition anknüpft und mit seinen Festen den alten Brauch wenigstens in etwa wieder aufleben lässt.
Es liegt nun ausschließlich an den Bürgern der Stadt, ob dies in dem Maße gelingt, wie es sich die Veranstalter vorstellen. Mögen daher die begangenen Heimat- und Schützenfest zu einer bleibenden, sich alle paar Jahre wiederholenden Veranstaltung werden, das die gesamte Bürgerschaft auf der traditionsreichen Hackelmasch zum gemeinsamen Fest, zur Stärkung des Selbstbewusstseins und des Zusammengehörigkeitsgefühls zusammenführt!
Quelle: Karl Granzow – Alfelder Zeitung
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- – 04. August 1958 fand das letzte Freischießen statt