1939 – Als der Krieg nach Alfeld kam
Alfeld – unstreitig eine der eigenartigsten Städte des Leinetals hat im Laufe der Jahrhunderte eine mehrfache Umformung seines Gesichtes erleben müssen.
Die Veranlassung dazu ergab sich immer aus den jeweiligen Zeitforderungen, die die Lage, die Landschaft, die Arbeitsweisen usw. stellten. Da es nicht unsere Aufgabe ist, diese Zeitgesichter näher zu zeichnen, so möge eine kurze Aufzählung die Namen jener Gesichter aber doch nennen:
1. Das Blockhausgesicht
2. Das Ringmure = Festungsgesicht
3. Das Ackerbürgergesicht
4. Das goldene Gewerbegesicht
5. Das Fachwerkgesicht
6. Das Gegenwartgesicht
Heute – 1939 – ist Alfeld eine Stadt die allen Forderungen der Gegenwart zu entsprechen versucht.
Sie hat eine Gasanstalt, ein Elektrizitätswerk, Kanalisation, Wasserleitung, eine Feuerwehr, wundervolle Wallanlagen und einen Friedhof, der allen Schönheitsforderungen entspricht.
Vorbildliche Schulen geben Gewähr für eine gute Vor- und Weiterbildung der Jugend und ein modernes Postamt verbindet Alfeld mit der Welt.
Dazu ist Alfeld eine vom industriellen Puls durchklopfte Stadt des Fleißes, in der in eigenartigen Fabriken Spezialitäten hergestellt werden, die es mit sich brachten, dass Alfeld die Stadt der Spezialitäten genannt wurde.
So stellen zwei Schuhleistenfabriken aus den Buchenblöcken der heimatlichen Wälder kunstvoll Leisten her.
Zwei Eisenfabriken gießen neuartige Öfen, Herde, Straßenbaumaschinen und viele andere Dinge.
Einer Korkfabrik ist es möglich Korken, hauchdünnes Zigarettenpapier und andere Spezialartikel anzufertigen.
Die Zellulose- und Papierfabrik besitzen ihrer hochwertigen Papiererzeugnisse wegen hohes Ansehen.
Weltruf besitzen die in allen Erdteilen bekannte Tierhandlung „Ruhe“ sowie die ob ihrer Alpenveilchenspezialitäten berühmte Großgärtnerei „Ernst Binnewies“.
Vom rastlosen Streben und Streben des Handwerkes Zeugen viele mit neuartigen Maschinen ausgestattete Werkstätten. Es ist wert, in die Räume dieser wirtschaftsbelebenden Industrie einmal einen Blick zu tun, in die Räume voll technischer Wunder in denen es hämmert und klopft und stampft und kreischt, stanzt und zischt, summt und singt.
Trotz alledem darf man Alfeld nicht für eine reine Industriestadt halten, denn überall sind noch Erinnerungen an das kunstsinnige und schönheitsfreudige Mittelalter erhalten geblieben .
Das Bunt der mittelalterlichen Häuser, die Verträumtheit der Gassen, die alten Ringmauerreste, der Fillerturm, die stillen Winkel, die Greisenschönheit der uralten Linden ergeben ein Bild voller Reiz und Mannigfaltigkeit.
Tief unter den Anlagen murmeln die Warnewasser hin und rauschen bei von Kuhlemanns Teich ihr uraltes Lied , – an heißen Sommerabenden leise wie ein inniges Volkslied ohne Worte.
Wenn aber die Gewitterwasser von den Bergen fluten und die Mondnacht über nebelblauen Bergen liegt, dann wälzt und braust und brandet es die ganze Nacht wie eine Bergsymphonie.
Die nächtlichen Straßen sind still. Der Marktplatz liegt verzaubert da. Am Kriegerdenkmal rieseln die Springbrunnen, die Giebeldächer der alten Häuser, das Rathaus, die schieferblauen Kirchtürme stehen im Mondlicht und ragen wie in eine andere Welt.
Das sind Stimmen, das sind Gesichter deiner Heimat.
So sah Alfeld – eine mit vielen mittelalterlichen Erinnerungen durchsetzte Stadt – im Jahre 1939 aus.
Dann aber änderte sich in den sommerlichen Augusttagen alles. Es begann das Unheil, es kam die Not.
Über den roten Ziegeldächern wölbte sich wochenlang ein blauer Himmel und tauchte die Berge, die Leinewiesen in einen zauberhaften Lichtrausch.
Die Menschen gingen wie sonst sommerlich gekleidet. Und doch war es anders, denn in der Bevölkerung machte sich eine Bewegung, eine Unruhe bemerkbar. Es war, als hätte sich über die Sommerfreude ein Schatten gelegt.
Man redete von drohender Kriegsgefahr. Und da man den Weltkrieg 1914 – 1918 noch zu gut kannte, so ließen ernste Schicksalsfragen die Menschen still sein.
Wie konnte man auch stumpf sein gegen das namenlose Elend, blind gegen die ungeheuere Gefahr, die ein Krieg mitbringt – nicht nur für den Fortschritt der Kultur, nicht nur für ihre Erhaltung auf der bisherigen Höhe, sondern für ihren Fortbestand überhaupt.
So kam es, dass die wundervollen Augusttage voll bedrückender Stille waren und die Menschen in einem Zwischenzustande lebten.
Es war nicht mehr Friede und noch nicht Krieg.
Aber eines Tages war er da: der Krieg!
Nächte kamen, in denen es nach Mitternacht nicht ruhig werden wollte. Kradmelder rasten durch die Nacht und klopften zu später Stunde an Türen und Fenster, um Einberufungsbefehle zu bringen.
Es ereignete sich im scheinbar ruhigen Alltagsleben ungeheuer viel, das im Einzelnen oft des Berichtes nicht wert schien, aber doch festgehalten werden müsste, um durch Aneinanderreihung ein Gemälde, eine heimatliche Chronik zeichnen zu können. Es kam dabei nicht auf die Aufzählung der großen Ereignisse an. Nein, die Chronik soll wiederspiegeln, wie in jedem Hause ein Stück Kriegsgeschichte erlebt wurde, wie Alfeld, die Familien, die Heimat an den Geschehnissen teilnehm und von ihnen berührt wurde.
Doch bevor dieses „Geschehen“ mit all seinem Drum und Dran, seinem Scheiden und Meiden, seinem Durchhalten und Aushalten wie ein „Film“ vorüberzieht, scheint es geboten zu sein, erst einmal den heimatlichen Schauplatz holzschnitzartig zu zeichnen.
Anmerkung: Die im letzten Absatz oben genannten Auszüge aus dieser Chronik werden wir hier auf unserer Internetseite nach und nach veröffentlichen.
Quelle: Auszug aus der sog. „Windel’sche Chronik“ 1950