In einem lange vergangenen Winter, es muss wohl 1910 gewesen sein, lag auf einem Alfelder Hinterhof ein toter Kater im Schnee.
Die Kälte hatte ihn steifgefroren. Warum dieses Tier starb, interessiert hier nicht. Was dem Alfelder Leisetreter aber in seiner postmortalen Phase widerfuhr, gibt uns einigen Aufschluss über jene Zeit, in der der Umgang mit Tieren in der Leinestadt eine entscheidende Rolle gespielt hat.
Zwei Alfelder Jungen kamen durch den Schnee dahergestapft. Sie entdeckten den Samtpföter und hielten sein prächtiges Winterfell für eine willkommene Geldquelle. Diese Buben standen unter dem Einfluss ihres Klassenlehrers, eines Mannes, der es verstand, für seine Schüler Vorbild und Leitfigur zu sein. Sein Name war Alois Brandmüller. Seine Passion war das Präparieren verendeter Tiere, das „Ausstopfen“, wie man hier sagt.
Die zwei Jungen haben dem Meister seines Fachs gelegentlich zur Seite gestanden, wenn dieser seine Präparate behandelte. Gelegentlich konnten sie sich nützlich machen und durften ihm zur Hand gehen.
Mit dieser minimalen Vorbildung ausgestattet, machten sie sich also an den tiefgefrorenen Kater heran, um ihm das Fell über die Ohren zu ziehen. Ihnen gelang diese Skalpierung auch. In der Rats-Apotheke erstanden sie daraufhin Alaun, um das Fell zu gerben. Auch die Gerbung gelang. Jetzt konnte das Fell zum Zwecke der Rheumabehandlung angeboten werden.
Der geschäftliche Erfolg war eher bescheiden. 30 Pfennig für das Alaun, für 50 Pfennig schlossen sie ihren Handel mit dem Alfelder Kürschnermeister Ernst Pickerott ab. Das waren 10 Pfennig Gewinn für jeden. Mehr zählte allerdings die Zunahme an Lebenserfahrung. Sie wurden beide später Angestellte der Firma Ruhe. Wenn die Alfelder Tierpfleger von Reiche und Ruhe ihre Geschöpfe nicht am Leben erhalten konnten, stand Brandmüller anstelle des Totengräbers im Firmentor. Er wurde allseits geschätzt und trotzdem selten freudig begrüßt. Denn sein Kommen bedeutete den Tod eines lange gepflegten Tieres. Durch diese Zusammenarbeit ist eine in Südniedersachsen einzigartige Sammlung seltener exotischer Tierarten entstanden. Mit seiner Kunst hat er 122 verschiedene Arten in ihren typischen Lebensräumen zur Ausstellung gebracht.
Wären da nicht Alois Brandmüller und sein Partner Carl Bartels gewesen, die die Kadaver mit einer Seele aus Draht und Holzwolle versahen, die meisten Spuren des Handels mit exotischen Tieren wären verschwunden wie der Schnee im Frühjahr 1915. Im Alfelder Tiermuseum stehen jetzt die stummen Zeugen, für die so mancher Sohn der Stadt sein Leben im afrikanischen Unterholz riskierte.“
Die Präparate, alle vor 1933 entstanden und gerade frisch restauriert, stellen nicht nur einen biologischen Wert dar, sondern auch einen geschichtlichen, denn sie sagen viel über das Handwerk und die Methoden der Tierpräparation zum Anfang des Jahrhunderts aus. Alfeld besitzt mit dem Tiermuseum eines der bedeutendsten Zeugnisse des Tierhandels und eines der schönsten Museen im Landkreis.
Übrigens, dort wo Brandmüller damals seine Tiere bearbeitete, geht es heutzutage entschieden lebendiger zu:
In der Hildesheimer Straße 2
Alfred Glenewinkel – Ein Nachruf
…was ich alles erlebte…
„…was ich alles erlebte, könnte ganze Bände füllen“. In einem Band hat er versucht, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Eine der interessanten in Alfeld. Eine der großen und faszinierenden Persönlichkeiten, einer der letzten Tierhändler ist am 22. April 1996 gestorben.
Alfred Glenewinkel schrieb in seinen Erinnerungen:
„Es war im Januar 1900. In einer Kleinstadt, an den Ausläufern des Harzes, wurde ich geboren. In Alfeld an der Leine. Das wurde mir zum Schicksal. So klein das Städtchen war, barg es doch interessante Industrie in seinen Mauern. Unzweifelhaft das Interessanteste waren die zwei rund um den Erdball verbreiteten Tierhandelsgroßfirmen C. Reiche und L. Ruhe…“
Alfred Glenewinkel war, vielleicht haben sie es schon erraten, einer der Protagonisten, die 1914 dem Kater das Fell über die Ohren zogen. Der andere war Hermann Windhorn, dessen Vater Tierhandelsreisender für Ruhe war.
Er wuchs auf in der Atmosphäre des Tierhandels. Lassen wir ihn wieder selber zu Wort kommen: In seinen Memoiren beschrieb er die Szenerie in den Straßen der Stadt, nachdem ein großer Überseetransport der Tierreisenden und Tierfänger angekündigt war: „Die ganze Bürgerschaft war in Aufregung. Welche Vielfalt an Tieren, welcher Reiz von fremdländischem Anblick zog an mir vorbei. Männer mit großen Tropenhüten, braungebrannt, gewichtig in dem Bewusstsein, nach monatelanger, erfolggekrönter Arbeit in fremden Erdteilen, nun wieder in der Heimat zu sein, im Kreise der Familie und der Freunde. Vorüber zog an mir die Karawane.
An Halftern geführte Zebras, Giraffen, Büffel, Elefanten, Antilopen u.s.w. Begleitet von den eingeborenen Helfern und Pflegern…“ Nicht erwarten konnte der kleine Alfred es jeweils, an einem der nächsten Tagen die Stallungen aufzusuchen, in denen sich die Neuankömmlinge bereits befanden.
Dieser frühe Kontakt prägte Glenewinkel, auch wenn es ihn vorerst in trockene Büroluft verschlug. Im „staatlichen Kastenwesen“ absolvierte er seine Lehrjahre und gleich nach dem erfolgreichen Abschluss meldete er sich mit 17 Jahren kriegsfreiwillig. Als er ein Jahr später wieder nach Alfeld kam, hielt es ihn nur kurz in seinem alten Beruf. Einmal den Duft der großen weiten Welt geschnuppert, konnte er ihm nicht widerstehen. Er bot sich bei der Firma Ruhe als einfacher Arbeiter an, obwohl seine Karriere bei der Bank schon ausgemacht war. Der nur zwei Jahre ältere Chef, Hermann Ruhe II, wollte dem jungen Glenewinkel noch davon abraten, doch der blieb hartnäckig.
Er wurde also vorerst mit den niederen Aufgaben der Tierpflege betraut, die er zur Überraschung aller seiner Skeptiker zur vollen Zufriedenheit erledigte. Schon bald durfte er Tiertransporte nach Afrika begleiten. Von nun an war Glenewinkel in der ganzen Welt zu Hause. Welche Berufe hatte dieser Mann: Inspektor im Züricher Zoo, Zoodirektor in Gelsenkirchen, aber auch Tankstellenpächter und Schrotthändler steht in seinem Lebenslauf.
In St. Elisabeth wurde das letzte Kapitel dieses Mannes, der so viel und so gern erzählte, nach 96 Jahren beendet. Einen Lebenslauf kann man nicht so ohne weiteres in ein Regal stellen.
Alfred Glenewinkel 1900-1996
…eine Aufnahme aus den 30er Jahren mit den Gorillazwillingen Bobbi und Pauline. |
Quelle: SIEBEN: Ausgabe Juni 1996 – Haupttext: Heiko Stumpe – Einleitungstext: alt-alfeld / Verein für Heimatkunde