Also lautet ein Beschluss, dass der Mensch was lernen muss. So beginnt der vierte Streich der Bildergeschichte „Max und Moritz“ von Wilhelm Busch. Dieser „Beschluss“, heute wohl „Allgemeine Schulpflicht“ genannt, trat auch für mich kurz nach Ostern 1917 in Kraft, da ich nun einmal zum Geburtsjahrgang 1911 gehöre.
Der völlig ungebundene Tagesablauf in der Parterrewohnung meiner Eltern in der Bahnhofstraße Nr. 3, wo heute die Firma Möbel-Rössig im ganzen Haus ihr Einrichtungsgeschäft betreibt, war nun zumindest ab Vormittag zu Ende. Dabei gab es soviel zu sehen auf der Straße, denn alles, was aus der Stadt zum Bahnhof oder gar weiter wollte, musste, wie heute auch noch, dort vorbei. Außerdem war hinter dem Haus ein kleines Gärtchen mit Blick auf die Leinewiesen in Richtung Limmer. Von dort konnte herrlich der Auf- und Abbau eines Karussells oder eines Zirkus beobachtet werden.
Im übrigen lag die Bahnhofstraße zwischen Leine- und Kolkbrücke ein Stück tiefer als heute, und da die Grundstücke, auf denen heute die Post und die Brücken-Apotheke stehen, noch unbebaut waren, konnte man über die Leinewiesen hinweg bis nach Föhrste blicken.
Zu Weihnachten 1916 gab es dann bereits eine Schiefertafel, an der an Bindfäden ein Schwamm und ein Lappen herunterbaumelten; dazu einen Griffelkasten aus Holz mit auf- und zuschiebbarem Deckel und mehreren Griffeln darin. Bis Ostern 1917 war dann auch ein Tornister beschafft. Dieser war aus schwarzer Hartpappe gefertigt, während die zum Verschließen vorhandene große Klappe aus imitiertem Seehundfell gefertigt war. Dieses in meinen Augen wahre Prachtstück hat erstaunlich lange gehalten, noch über die Vorschulzeit hinaus.
Nun sollte aber auch ein einigermaßen gut aussehender Anzug zum Schulanfang vorhanden sein. Das war aber im Jahr 1917 leichter gesagt als getan. Eine vorsorgliche Rationierung von Lebensmitteln sowie anderen Gütern des täglichen Gebrauchs war bei Kriegsbeginn im Jahr 1914 nicht sofort vorgenommen worden, so dass schon erhebliche Engpässe eingetreten waren, bevor Lebensmittelmarken und Bezugsscheine eingeführt wurden. Der Schneidermeister meines Vaters hatte jedenfalls keinen Stoff mehr, woraus ich einen Anzug hätte bekommen können. Aus der Not half dann ein Mann namens Max Kaiser, der ein Konfektionsgeschäft in der Leinstraße betrieb, und zwar in dem Hause, in dem sich heute das Geschäft der Firma Elektro-Kampe befindet. Herr Kaiser war Jude mit holländischer Staatsangehörigkeit; er soll 1933 Deutschland rechtzeitig verlassen haben. Nun hatte dieser Kaufmann natürlich auch keine so genannte „Friedensware“ mehr, wie man seinerzeit sagte, aber es war immerhin ein Anzug, den er uns verkaufen konnte. Man war erfinderisch geworden in der Fertigung von Ersatzstoffen; es wurde in Bekleidungsstoffen u. a. Papier, Brennnesseln und Pferdehaar verarbeitet. Dieser Anzug hat sich auch erstaunlich gut getragen, bis ich auf einem Ausflug in einen heftigen Regenschauer geriet. Das nahm er sehr übel und lief nicht etwa ein, sondern er quoll auf. Der Stoff war dreimal so dick wie vorher; auch hatte sich das Gewebe irgendwie verschoben.
Nach dem Trocknen hat dann meine Mutter versucht, ihn mit List und Tücke wieder glatt zu bügeln, was aber beim besten Willen nicht gelang. Getragen wurde der Anzug aber trotzdem; es war eben bittere Kriegszeit.
Nun aber zur Einschulung selbst. Diese erfolgte kurz nach Ostern 1917, und zwar nach dem Willen meines Vaters in die Vorschule des seinerzeitigen Realprogymnasiums, aus dem 1954 das jetzige Gymnasium entstanden ist. Der Zeit entsprechend ging das Ganze sang- und klanglos vor sich. Eine Schultüte zum Beispiel gab es nicht; was hätte man auch hineintun können. Süßigkeiten jeglicher Art, wie auch Apfelsinen oder Bananen, kannten wir höchstens vom Hörensagen. Unsere Klassenlehrerin, Fräulein Mathis, nahm uns in Empfang, ließ die uns am ersten Schultag begleitenden Mütter kurz ins Klassenzimmer mit hinein, damit diese sehen konnten, wo ihre Sprösslinge in Zukunft unterrichtet werden sollten, und damit hatte sich das.
Fräulein Mathis, bis Ostern 1913 an der hiesigen Bürgerschule tätig, war ein mütterlicher Typ, schaute uns gar freundlich an, ließ jedoch nicht den kleinsten Fehler, irgendeine Unaufmerksamkeit oder dergleichen, durchgehen. Diese Vorschule hatte für die Schüler zweifellos den Vorteil, dass die Klassen eine sehr geringe Schülerzahl aufwiesen; ein Untertauchen in der Masse war nicht möglich. Man war somit gezwungen, sich zu konzentrieren, was sich ohne Zweifel auf die Leistung und damit auch auf die späteren Schuljahre auswirkte. Außerdem brauchte man bis zum Eintritt in die Sexta (die heutige 5. Klasse) nur drei Jahre zu absolvieren, vorausgesetzt natürlich, dass man dem Lehrstoff folgen konnte und nicht „sitzen blieb“. Für die Eltern allerdings der Nachteil, dass sie vom ersten Tage an Schulgeld entrichten mussten.
Wer nun nach dem Vorhergesagten vermuten möchte, dass diese Vorschule etwas Besonderes gewesen sei, der irrt sich sehr. Einmal ging der Schnitt der Elternschaft dieser Schüler quer durch alle Berufsstände, zum ändern war der Besuch der Vorschule keineswegs die Garantie dafür, dass das Ziel, in das Realprogymnasium aufgenommen zu werden, auch erreicht wurde.
Im ersten Schuljahr erlernten wir anhand einer Schreiblesefibel die kleinen und großen Buchstaben in Schreib- und anschließend auch in Druckschrift; damals allerdings zunächst nur in deutschen Lettern. Die lateinischen Buchstaben blieben dem Anfang des zweiten Schuljahres vorbehalten. – Selbstverständlich wurde auch das Zusammenzählen sowie das Abziehen kleinerer Zahlen geübt. Außerdem wurde das Singen kleiner Liedchen geprobt, mit Buntstiften gemalt, in die biblische Geschichte eingeführt und im Freien ein so genanntes ,,Spielturnen“ ausgeübt.
Ein im wahrsten Sinne des Wortes einmaliges Ereignis war in meinem ersten Schuljahr die Teilnahme an der für mich ersten aber auch zugleich letzten Feier anlässlich des Geburtstages von Kaiser Wilhelm II. am 27. Januar 1918. Besonders groß ist die Erinnerung an diesen Tag allerdings nicht mehr, da es sich in Anbetracht der doch schon recht bedenklichen Lage an den Kriegsfronten mehr um eine schlichte Gedenkstunde als um eine Feier handelte. Wir Kleinsten saßen in der Aula vorn in der ersten Reihe kerzengerade und mäuschenstill. Vor uns Lorbeerbüsche in Kübeln, die wohl von einer Gärtnerei entliehen waren. Aus diesem dichten Grün lugte ein weißer Kopf hervor; es wird sich um eine Gipsbüste des Kaisers gehandelt haben. Der Herr Direktor Herberholz hielt eine Rede, die über uns Kleinen unverstanden hinwegrauschte. Dann wurde „Heil Dir im Siegerkranz“ gesunden, wobei der unvergessene Lehrer Halfbrodt mit einem altgedienten Harmonium die Melodie führte. Anschließend war schulfrei; weitere Veranstaltungen, wie es diese vor allem vor dem Kriege gegeben hatte, fanden für uns Schüler nicht mehr statt. Zehn Monate später befand sich der noch im Januar Gefeierte bereits in seinem Exil in den Niederlanden.
Für uns Erstklässler war im März 1918 das erste Schuljahr zu Ende. Es ging nun ins zweite Schuljahr mit noch mehr Entbehrungen, Ende des Kaiserreichs, Rückkehr unserer Soldaten nach verlorenem Krieg und großer Sorge um die Zukunft, die auch uns Kleinen nicht verborgen blieb.
Quelle: Hans Renders aus Alfelder Geschichten, 1983