„England hat uns den Krieg erklärt!“ Mit diesen Worten empfing ich als „10jähriger Junge meinen Vater in unserem Hause,Perkstraße 15. (Mein Vater nannte es „Onkel Toms Hütte“.) Mit sehr ernster Miene meinte mein Vater dann: „Junge, Junge, die letzte Runde gehört dem Engländer.“ Wir waren Welfen und sahen den kommenden Monaten mit sehr viel Sorge entgegen. Lüttich, die belgische Festung, die als uneinnehmbar galt, war gefallen. Das 10. Armeekorps Hannover unter Führung von General Emmich hatte einen großen Sieg errungen. Die Niedersachsen hatten ihre Feuertaufe erhalten und sich tapfer geschlagen.
Die Kriegsereignisse waren in jeder Familie zu spüren. Schweigen – Feind hört mit! Deutschland wimmelte von Spionen! Auch in Alfeld hatte man eine so genannte Bürgerwehr gegründet, die Brücken, Straßen und alle notwendigen und lebenswichtigen Einrichtungen bewachte und Spione ausfindig machen sollte.
Wie immer ging die Familie Stolzenberg rechtzeitig schlafen, denn sie musste ja auch wieder früh aufstehen. So hatte man es auch vom 5. zum 6. August 1914 gemacht. Eine traurige Gaslaterne, am Ravenhaus angebracht, war das ganze Licht für Perkstraße, Ecke Ständehausstraße. Man kann sagen, das Perktor lag im Dunkeln.
Gegen 10 Uhr abends plötzlich wurden wir durch Lärm und Kommandorufe und große Autoscheinwerfer aufgeschreckt. Die ganze Familie sprang auf. Angezogen – und schon standen wir auf der Ständehausstraße vor dem Landratsamt. Inzwischen waren schon viele Menschen am Schauplatz des Geschehens eingetroffen. Unsere Bürgerwehr hatte die beiden großen Autos (solche hatten wir noch nicht gesehen) mit Gewalt gestoppt. Waren das Spione? Ja! Es hieß sogar, der eine Fahrer hätte die Pistole gezogen. Na, da kamen die Herrschaften bei der Alfelder Bürgerwehr gerade an eine Truppe, die sich nicht viel vormachen ließ. Auch war jetzt die Zahl der Zuschauer gewaltig gewachsen. Alle warteten auf die Dinge, die da kommen sollten.
Eine Dame legitimierte sich als Königin von Griechenland. „Das kann jeder sagen“, rief die Menschenmenge, „verhaftet die Spione!“ Die Aufregung stieg. Immer bedrohlicher wurde die Haltung der Leute. Immer wieder Rufe: „Verhaften!“ Da traf der Alfelder Landrat Dr. Burchard, übrigens ein Schwager von Walter Gropius, ein.
Den konnte die Dame mit ihren Ausweispapieren überzeugen, dass sie die Königin von Griechenland, eine Schwester des Kaisers Wilhelm II., sei.
Die Königin war auf der Reise von Kiel nach Süddeutschland. Sie und die begleitenden Damen wurden in Pecks Hotel „königlich“ untergebracht.
Am anderen Morgen waren viele Alfelder schon früh auf den Beinen. Besonders die Schuljugend war nun begeistert, dass man mal eine Königin sehen konnte. Ich auch. Die Alfelder Polizei ermunterte uns sehr oft mit dem Satz: „Nun schreit alle einmal kräftig, Hurra’!“ Landrat Dr. Burchard überreichte der Königin einen großen Blumenstrauß und brachte sein Bedauern zum Ausdruck wegen des peinlichen Vorfalls. Auch Bürgermeister Gerlof entschuldigte sich in Namen der Stadt Alfeld. Es sei eben Krieg! Die Königin von Griechenland aber freute sich über Bürgerwehr, Beamte und Bevölkerung, die alle nur ihre Pflicht getan hätten.
Die Weiterreise nach Süddeutschland unternahm die Königin nun mit einem Extrawagen der Bahn. Dieses Ereignis beschäftigte uns noch lange, auch innerhalb der Familie.
Vier grauenvolle Kriegsjahre lagen noch vor uns.
Quelle: Georg Stolzenberg aus Alfelder Geschichten, 1983