Das alte Fachwerkhaus am Klinsberg Nr. 6, in dem meine Mutter geboren wurde und das heute von meinem Vetter Hans Röttger und dessen Ehefrau bewohnt wird, war für uns Kinder immer geheimnisumwittert. Die Spökegeschichten, die uns vornehmlich an den langen Winterabenden der phantasiebegabte alte Heinrich Röttger bei knisterndem Herdfeuer auf Drängen und Bitten erzählte, handelten oftmals von dem unterirdischen Gang, der aus dem tiefen Gewölbekeller zur Steinberg‘schen Kapelle führte, die noch heute so heißt und an die St.-Nicolai-Kirche angebaut ist. Zu meiner Zeit war der Eingang zu diesem Gang, der übrigens frei im Mergel stand und nicht ausgemauert war, durch ein starkes Holzgitter versperrt; später mauerte man ihn aus Sicherheitsgründen zu. Durch den Bau von Kanalisationen war der Gang längst verschüttet. Aber in unserer Familie existierte er noch, und die Schauergeschichten, die oftmals von Mönchen und Rittern handelten, die in diesem Gang geheimnisvolle Botschaften dem Besitzer des Adelshofes überbrachten oder sich dort verbargen, klangen uns noch lange in den Ohren.
Das Haus erlebte eine wechselvolle Geschichte. Im Jahre 1445 erhielten die Brüder Freiherren Dietrich und Heinrich von Steinberg vom damaligen Hildesheimer Bischof Magnus die Genehmigung zum Bau einer Ansiedlung zwischen Wispe und Leine. Es war ein Adelshof mit vielen Vorrechten (Privilegien). So durfte z. B. dieser Freihof jederzeit Menschen aufnehmen, die auf der Flucht vor Strafe von weither gekommen waren. Vierzehn Tage wurde diesen Menschen, unter denen sich auch manchmal Räuber und sogar Mörder befanden, Asylrecht gewährt. Passten die Alfelder gut auf, konnten sie manchmal Bösewichte beim Verlassen des Hofes schnappen und aburteilen lassen. Gelang den Flüchtenden jedoch, über die Leine zu entkommen und unbehelligt den Gerzer Schlag oder Brüninghausen zu erreichen, über schritten sie dort die Landesgrenzen von Braunschweig, Hannover oder sogar Westfalen und waren für‘s erste „gerettet“.
Die Freiherren von Steinberg waren verwandt mit denen von Brüggen, Wispenstein und Wohldenberg.
Der Freihof am Klinsberg besaß die besten Ländereien, Wiesen und Weiden, ferner die besten Waldungen. Das Fischereirecht hatten die von Steinberg von der Wispensteiner Brücke bis zur Brücke in Alfeld und an der Warne, außerdem durften sie Wege- zoll erheben und das Wasserrecht ausüben. Wollte also ein Müller eine Mühle betreiben, so musste er einen Wasserzins zahlen. Fördernd waren die Freiherren aber auch tätig. So haben sie bei der Gründung des Städtebundes zwischen Hildesheim, Goslar, Braunschweig und Hannover mitgewirkt und die Hansa unter stützt, zu der Alfeld damals gehörte und in der es eine Blütezeit erlebte.
Der letzte von Steinberg hatte keinen männlichen Nachkommen, sondern zwei Töchter. Die eine wurde durch Heirat eine Frau von Cramm, die andere eine von Adelebsen. Als Witwe zog diese Frau von Adelebsen im Jahre 1699 in das Haus am Klinsberg ein, das dann als Witwensitz diente. Die verwitterte Inschrift über der Haustür kündet noch davon. Sie lautet:
Wen Gott gibt — so schadet kein Neid
Wen Gott nicht gibt, so hilft keine Arbeit
Sabina Amalia von Adelebsen Witwe von Steinberg, 1699 Zum Freihof gehörten auch gegenüberliegende Häuser, in denen Rentmeister, Förster, Vogt und Hirte wohnten. Aber von den ehemaligen Stauungen und Nebengebäuden ist nichts mehr vorhanden.
Umgeben war die Wohnanlage mit Mauer, Wehrgängen und Wehrtürmen, die südliche Begrenzung war die Stadtmauer, von der heute noch ein kleiner Rest vorhanden ist. Eine etwa drei Meter hohe Mauer an der Straße am Klinsberg wurde wegen Einsturzgefahr im Jahre 1904/05 entfernt. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts kaufte die Stadt das Grundstück, um dort eine Bürgerschule zu errichten. Wegen der Nähe der Zellstoffabrik ließen die Stadtherren diesen Plan fallen. Im Jahre 1894 erwarb der Gärtner Heinrich Röttger das Grundstück und errichtete dar auf eine Gärtnerei. In dessen Familienbesitz befindet sich heute noch der ehemalige Freihof der Freiherren von Steinberg.
G. und Hans Röttger, aus „Alfelder Geschichten“ Herausgegeben von einer Alfelder Arbeitsgemeinschaft im Jubiläumsjahr 1983