Der Ordnungshüter der Stadt war August Blickwede. Im Ersten Weltkrieg war er Vize-Feldwebel. Im Zivilleben war er Polizeibeamter und das mit Leib und Seele. Er war der Polizist, d. h. er war Der!!
Der, das hat zu sagen, dass es nur ihn allein als einmalige Ausgabe gab. Er war der Typ des unbestechlichen preußischen Polizeibeamten. Wenn August im Dienst war, so gab es nichts, was noch hätte wichtiger sein können. Er war dann im Dienst und stellte die Staatsgewalt dar. Er wollte unter allen Umständen korrekt sein und unerbittlich, auch sich selbst gegenüber. Das führte zu den ungewöhnlichsten Vorkommnissen und Kapriolen. Es gibt eine ganze Menge von Anekdoten und Geschehnissen, die er sich zum Ergötzen der ganzen Stadt geleistet hat.
So hat er u. a. auch seine hochverehrte Frau Gemahlin angezeigt. dass er hierbei weit über das Ziel hinausgeschossen ist, machte ihm bei seiner preußischen Dienstauffassung absolut nichts aus. Wie gesagt, er wollte unter allen Umständen immer korrekt und unbestechlich sein. Na schön, wir hatten daran unseren Spaß.
Folgende Geschichte hat sich hier in der Stadt zugetragen:
Damals hatten die Geschäfte noch bis 19 Uhr geöffnet. An diesem betreffenden Tage hatte August,,Blitz“, so wurde er genannt, um die gleiche Zeit Dienstschluss. Er pilgerte also nach getanen Amtsgeschäften seiner heimatlichen Behausung entgegen. Wohlweislich immer auf der rechten Straßenseite. Heilige Ordnung, sonst konnte man mit ihm kollidieren! So erreichte er etwa gegen 19.15 Uhr den Laden des Schlachtermeisters Arnke. In diesem Augenblick jedoch kommt seine eigene Frau aus dem Geschäft. Das war für August zuviel. Das war offensichtlich ein Verstoß gegen das Ladenschlussgesetz. Er wurde also amtlich mit den an seine Frau gerichteten Worten: ,,Halt, Sie haben eben hier noch eingekauft. Geben Sie mal Ihren Namen an.“ „August, ich glaube, du bist verrückt. Du wirst doch deine Frau noch kennen!“ „Was heißt hier August? Hier ist die Staatsgewalt, geben Sie mal Ihren Namen an.“ Frau Blickwede, nun auf den Hahnenjökel eingehend, erklärte: „Ich bin Frau Blickwede, die Frau des Polizeiobermeisters August Blickwede, wohnhaft in Alfeld (Leine), Föhrster Straße.“ „So, gut, das kostet ein Mandat.“ Damit aber nicht genug. Die Gerechtigkeit verlangte, dass der Verkäufer auch noch einen aufs Dach kriegte. August ging also in den Laden mit den Worten: „Sie haben eben Frau Blickwede noch etwas verkauft.“ „Natürlich habe ich das.“ August zieht seine Uhr und stellt amtlich fest: „Es ist 19.25 Uhr, das kostet ein Mandat, geben Sie mal Ihren Namen an!“ und er zieht sein Anschreibebuch. Der Schlachtermeister sieht ihn groß an und fragt, ob er „einen sitzen hat“. Er notiert den Namen und den Vorfall, und mit dem Bemerken, das hätte noch seine Folgen, verlässt er den Laden.
Hierzu muss aber noch bemerkt werden, dass August Blickwede und der Schlachtermeister Kegelbrüder in einem Kegelklub waren. Aber wenn August dienstlich werden musste, kannte er keine Verwandten.
Bäckermeister Albert Gerke hatte auf der Holzer Straße eine Bäckerei. Diese besteht auch heute noch, wenn auch unter anderem Namen.
Albert Gerke war ein etwa 187 cm großer Mann und brachte wohl seine 250 Pfund auf die Waage. Er war sehr kräftig und konnte auch ganz gut einen heben. Vor einer ziemlichen Anzahl halber Liter war er keineswegs bange. Außerdem war er sehr cholerisch, was verschiedentlich zu unangenehmen Situationen führte. Seine Backerzeugnisse wurden nicht nur im Laden verkauft, sondern auch in einem Dreiradlieferwagen zur Kundschaft gebracht. Und gerade dieser Lieferwagen gab den Anlass zu einem Riesentheater. Das geschah folgendermaßen:
Albert Gerke fährt mit diesem Dreiradwagen die Marktstraße hinunter. Auf der Kreuzung Leinstraße-Marktstraße-Sedanstraße steht der Polizeigewaltige, August Blickwede, und regelt daselbst den Verkehr. August war just aus der Bäckerei von Anton Fink gekommen. Seine Pelerine war von Mehl weiß bestäubt, und er selbst hatte einen Kopf so rot wie Edamer Käse. Er war in einer Stimmung, dass er jeden ungebraten hätte auffressen können. Es war in diesem Falle immer höchste Vorsicht geboten. Wir kannten das schon.
August regelt also den Verkehr. Ja, du lieber Himmel, da hätte einer Diplom-Fahrlehrer sein können, er wäre bei August nicht ohne einen Anranzer vorbeigekommen. An allen Autofahrern hatte er etwas auszusetzen. Bei ihm war Hochspannung!
In diesem unglücklichen Augenblick muss nun Albert Gerke die Marktstraße gefahren kommen. Selbstverständlich sieht er seinen Kegelbruder und Ordnungshüter August dort wirken und richtet sich danach. Jedenfalls hatte er das vor. Es kam aber ganz anders. In dem Glauben, Albert Gerke will in die Leinstraße einbiegen, bleibt August dort stehen und schaut grimmig zu Albert hin. Der aber, erkennend, dass er so den Bogen in die Sedanstraße nicht nehmen kann, ohne August umzufahren, beugt sich aus dem Fenster mit den Worten „August, geh da weg!“ Der denkt natürlich nicht im Entferntesten daran, sondern bleibt wie in die Erde gehauen dort stehen. Das hätte er lieber nicht tun sollen, denn nun reißt August Gerke den Wagen stärker herum, als es ratsam gewesen wäre, und fährt August über den großen Krischan. Das war zuviel und kam einer Kriegserklärung gleich. Damit aber nicht genug.
Durch das scharfe Herumreißen des Wagens einerseits und das gewaltige Gewicht von Gerke andererseits fiel der Wagen um und lag auf der Tür. Er hatte nämlich nur eine Tür, aber die lag nun auf der Erde, und Albert konnte nicht raus. Im Inneren des Wagens tobte nun Albert Gerke und brüllte wie ein Löwe. Draußen stand August und verlangte von Albert die Angaben über seine Personalien. Es gab einen gewaltigen Menschenauflauf, denn keiner wollte sich diese Sensation entgehen lassen. Nun waren dort eine ganze Anzahl von Arbeitslosen und auch jungen Leuten, schauten sich das Drama an und harrten der Dinge, die da kommen sollten.
Zunächst einmal schnauzte uns August an und verlangte, dass wir alle zufassen sollten. Das taten wir dann auch, aber nicht ohne Hintergedanken. Wenn wir also den Wagen so an die 30 cm angehoben hatten, dann ging uns die Puste aus, und wir ließen den Wagen einfach wieder fallen. Natürlich mit Albert Gerke imInneren. Der wurde nun von Minute zu Minute verrückter und brüllte wie unklug. Zwischenzeitlich waren schon mehrere Leutchen zum Schmiedemeister Hahn gelaufen und kamen mit dem Schweißapparat gefahren. Nun aber war Holland in Not. Albert war im Inneren bald tobsüchtig, und August war kurz vor einer Explosion. Wir also alle zugefasst und mit ,,Hauruck“ stand der Wagen wieder auf seinen Rädern. Nun aber kam erst das tollste Drama. August verlangte, just dass Albert auf den Beinen stand, die Angabe seiner Personalien mit den Worten: ,,Geben Sie mal Ihre Personalien an.“ Albert guckt nun August an, als wenn er sie nicht alle beisammen hätte und antwortet ihm mit den klassischen Worten: „August, Du kannst mich mal!“ dass es zur Ausführung dieser drastischen Aufforderung nicht gekommen ist, dürfte wohl kaum einem Zweifel unterliegen. Nicht aber darf bezweifelt werden, dass August diesen Vorfall mit einem saftigen Strafmandat geahndet hat.
Wie es tatsächlich verlaufen ist, ist für die Öffentlichkeit in nebelhafter Verschleierung geblieben. Es ist aber anzunehmen, dass dieses Vorkommnis der Gegenstand einer heiteren und wahrscheinlich auch feuchten Erörterung beim nächsten Kegelabend gewesen ist. Heute wären solche „Verkehrsunfälle“ eine todernste und nüchterne Angelegenheit mit allem Drum und Dran. Damals war es eine heitere Begebenheit für die ganze Stadt, wenn auch die beiden Hauptakteure eine durchaus entgegengesetzte Einstellung hierzu hatten. Dennoch, trotz des Kernspruchs eines Götz von Berlichingen, haben sich die beiden Zinshähne wieder vertragen, was man doch heute lobend anerkennen muss.
Und damit soll es sein Bewenden haben!
August Blickwede war auch Mitglied eines Kegelklubs. Ob er noch andere Hobbys hatte, ist nicht bekannt. Zu seinen Kegelbrüdern hatte er ein gutes Verhältnis. Bei dieser Gelegenheit war er ein ganz anderer Mensch.
An solchen Kegelabenden ging es immer lustig und gesellig her. Auch konnte es leicht vorkommen, dass die Polizeistunde überschritten wurde. Es kam ganz darauf an, wie diese Kegelbrüder in Stimmung gekommen waren. Da war denn auch August Blickwede kein Spielverderber.
So ging es eine ganze Zeitlang gut. Die Herren kegelten tüchtig, tranken auch ein oder mehrere alkoholische Flüssigkeiten und machten immer zur rechten Zeit Feierabend. Es waren eben alles biedere Leute und ehrwürdige Familienväter. Nur eines Abends sah sich August gezwungen, dienstlich zu werden. dass dieses eine Kuriosität werden würde, hatte er allerdings vorher nicht mit einkalkuliert. Er verkörperte ja die Staatsgewalt als Polizist.
Es war also inzwischen 1 Uhr nachts geworden, und der junge Tag war just eine Stunde alt, als August seinen höchst erstaunten Kegelbrüdern die Uhrzeit mit den schwerwiegenden Worten verkündete: „Meine Herren, jetzt ist Feierabend, es ist 1 Uhr nachts.“ Die Herren dachten aber nicht im Entferntesten daran, die liebgewordene Lokalität zu verlassen, noch hatten sie vor, sich die nun inzwischen auf dem Höhepunkt angelangte Stimmung vermiesen zu lassen. August aber dachte in dieser Hinsicht ganz anders. Er marschierte also ins Rathaus zur Polizeistation. Dort hing sein Dienstrock und auch die Dienstmütze. Wollte er dienstlich werden, musste er diese Uniform tragen. Wie gesagt, immer korrekt nach preußischem Polizeireglement! Zum Kegeln ging er nämlich in Zivil.
Gefestigt nun mit amtlicher Gewalt und angetan mit Kennzeichen eines Polizeibeamten, marschierte er zurück zu dem geselligen Tun seiner Kegelbrüder. Er wurde mit einem großen „Hallo“ empfangen, und alle glaubten an einen Scherz. Weit gefehlt! August wurde amtlich und schrieb seine sämtlichen Kegelbrüder auf. Der Vollständigkeit halber auch gleich mit Angabe der Uhrzeit. Er war der Ansicht, dass dieses mit zum Protokoll gehörte. August also setzte sich hin und schrieb allen Kegelbrüdern, und der Vollständigkeit halber auch sich selbst, ein Strafmandat in Höhe von 3,60 RM. Das waren 3,- RM Strafe und 0,60 RM Schreibgebühren. Diese Strafmandate waren amtlich und konnten auf dem Gnadenwege nicht erlassen werden. Das sollten sie auch gar nicht, denn seine Kegelbrüder haben sich unheimlich darüber amüsiert und es in der ganzen Stadt erzählt. Anschließend sind dann alle Strafmandate eingerahmt und in der Kegelbahn an die Wand gehängt worden.
Eines Tages kriegte es August Blickwede mit der alten Hageschen zu tun. Um was es ging, ist nebensächlich. Der Vorfall machte aber erforderlich, dass August sich nach Kamerun in die Wohnung der alten Hageschen begeben musste.
August also zieht los. Mit streng dienstlicher Miene und dem festen Vorsatz, einen Auftrag auszuführen, begibt er sich in die Gefilde des Hageschen Domizils. Natürlich sehen alle Nachbarn die Ankunft von August und stellen nun die verwegensten Vermutungen über seinen „Hausbesuch“ an. Es kursieren ja in solchen Fällen gleich die wildesten Gerüchte.
August klopft an die Tür, welche auch sofort geöffnet wird. In der Tür steht die alte Frau. Wenn die Hagesche aber in der Tür stand, so passte keine Zeitung mehr daneben. Die Türhöhlung war restlos ausgefüllt. August nun fragt die Alte:
„Frau Hage, wo ist Ihr Mann?“ „Mein Mann ist inne. Wat will Sei von meinem Ollen?“ „Ich muss ihn verhaften!“ „Sie haben wohl einen Vogel?“ antwortet die alte Hagesche auf dieses Ansinnen und ruft: „Oller, komm mal her und stell dich hinter mich. Wat will Sei von meinem Ollen? Einer rühre meinen Alten an, der kriegt es aber mit mir zu tun!“
Ja, das war nun eine Situation, mit der selbst der dienstgewaltige Polizei-Obermeister August Blickwede nicht fertig werden konnte. Er konnte doch die alte Hagesche nicht einfach niederschlagen, denn die stand in der Tür wie ein Fels im Meer. August hätte leichter eine Festung allein stürmen können, als an ihr vorbei in die Wohnung kommen zu können. So musste er zu seinem größten Bedauern unverrichteter Sache wieder umkehren. Es soll ihn enorm gewurmt haben, insbesondere seiner Staatsautorität wegen. Ob später noch Folgen sich hieraus ergeben haben, ist nicht bekannt.
Bekanntlich ist Silvester keine Polizeistunde. Somit konnten wir jungen Leute allerlei Allotria treiben und taten es auch. August schaute zwar oftmals grimmigen Blickes zu, musste es aber wohl oder übel dulden, wenn es das zumutbare Maß nicht überschritt. Da passten wir aber gewaltig auf, um seinen dienstlichen Zorn nicht herauszufordern.
Wir also, so an die zehn bis zwölf junge Leute, stehen im Halbkreis vor der Rathaustür und rufen im Chor: „Blitz raus, Blitz raus!“ Die Tonstärke konnte man mit halblaut einstufen. Als keine Wirkung eintrat, erhöhten wir die Lautstärke. „Blitz“ kam aber immer noch nicht aus dem Rathausportal. Plötzlich aber fasste uns einer ins Genick mit den Worten: „Blitz ist schon da!“ Er war also von der Rückseite gekommen. Er hat uns dieses aber absolut nicht übel genommen, es war ja Silvester.
Wir haben dann August zu einem Glas Bier in den Ratskeller eingeladen. Umsonst! Mit Engelszungen haben wir ihn gebeten, doch wenigstens einmal mit uns ein Bier zu trinken. Nichts zu machen! Selbst das ihm ins Dienstzimmer geschickte Bier hat er abgelehnt. Ein Kollege hat es mit Freuden ausgetrunken.
So war August: korrekt, unbestechlich und, wenn es sein musste, sehr dienstlich. Wir hatten alle einen Mordsrespekt vor ihm, aber wir hatten ihn doch alle gern. Er gehörte eben zur Stadt Alfeld wie das Amen in der Kirche. Als er verstorben war, hatte er ein sehr großes Gefolge, was immerhin ein Beweis für seine Beliebtheit war. Bis auf den heutigen Tag hat er nicht ersetzt werden können. Er machte Dienst für drei. Und was seine dienstlichen Schrulligkeiten anbelangt, so ist er bedauerlicherweise einfach unersetzlich geblieben. Er hatte ein Herz von Gold, was er aber nicht zeigen wollte. Er biss lieber ein wenig um sich, aber gerade deshalb hatten wir ihn gern. Er durfte es nur nicht merken.
Quelle: Hans Röttger aus Alfelder Geschichten, 1983