Eine Jugenderinnerung aus notschwerer Zeit von Karl Granzow
Es muss damals für die wenigen Menschen, die in der letzten halben Stunde des Altjahres über den Kirchhof hasteten, um so schnell wie möglich der rauhen Winternacht zu entgehen, ein gar seltsames Bild gewesen sein, fünf Jungen hinter einem schon leicht gebeugten Mann einherschreiten und in der schmalen Turmtür von St. Nicolai verschwinden zu sehen. Möglich ist aber auch, dass uns überhaupt niemand beachtet hat; denn damals, in dem notvollen Winter des Jahres 1918, waren die Herzen so voller Schmerzen und Sorgen, und dafür so leer an Hoffnung und Glauben, dass jedermann genug mit sich selbst zu schaffen hatte, und wer um Mitternacht noch über die Straße ging, musste schon zwingende Gründe dafür haben.
Fünf Jungen waren wir. Die Kälte schüttelte uns, und als wir die Turmtreppen von St. Nicolai aufwärts stiegen, hatten wir unsere liebe Not, unsere in Tücher gehüllten Instrumente sicher festzuhalten. Der Alte, der uns mit fast jugendlicher Behändigkeit voranstieg, sich dann und wann mit einem kurzen Mahnwort zu uns umwendend, denn über der Glockenstube sind es nur noch gebrechliche Leitern, die im nördlichen Turmhelm zur einstigen Wächterstube emporführen, war der Stadtkapellmeister August Krohme. Ihn deckt längst der grüne Rasen auf der Weißen Erde.
Allerlei wunderliche Gedanken mögen den greisen Musiker in jener Stunde bewegt haben, da er mit uns fünf Jungen zur Mitternacht in den massigen Turmbau der stolzen Kathedrale auf dem Klinsberg emporklomm, die Hände fest um das Tenorhorn gelegt, damit dem Instrument kein Schaden ankäme. Wir waren Jungen und empfanden nur das fast Abenteuerliche dieser nächtlichen Turmbesteigung, die uns beinahe die grausame Kälte vergessen ließ, obschon sie uns besonders arg zusetzte, weil ein leerer Magen bekanntlich eine schlechte Wärmflasche ist. Denn obwohl die deutschen Armeen aufgrund der Zusicherungen des amerikanischen Präsidenten die Waffen niedergelegt hatten, setzten die Sieger noch für einige Monate die Hungerblockade gegen Deutschland fort, und auch in unserer Heimat gab es viele Menschen – besonders unter den Kindern und Greisen, die an den Folgen der Unterernährung starben.
Nein, für das, was den alten Kapellmeister in jener Stunde bewegen musste, da er sich anschickte, dem alten, so schicksalsschweren Jahr den Abschied zu blasen, das neue aber zugleich mit Piston, Althorn und Tromba zu begrüßen, dafür konnten wir Jungen noch keinen Sinn haben. Viel später erst habe ich darüber nachgedacht und dann erst nachempfunden, wie trübselig dem alten Manne zumute gewesen sein muss, der ein tüchtiger Musiker war und in vielen Jahren vor einer ansehnlichen Musikantenschar zu ernsten und heiteren Ereignissen mit Meisterschaft die erste Violine gestrichen hatte, nun aber als seine einzige musikbeflissene Gefolgschaft fünf dürftige, von Kälte und Hunger geschüttelte Knaben hinter sich wusste!
Ich muss da noch etwas erklären. Einem alten Vertrag gemäß war Kapellmeister August Krohme gehalten, an jedem Sonn- und Feiertag vor dem Kirchgang einen kleinen Bläserchor in das einstige Turmwächterzimmer des dem Rathaus nächstliegenden Turmes zu führen und in alle vier Winde über die Dächer der Leinestadt hinweg zu Ehren Gottes und wohl auch zur frommen Erinnerung der Alfelder Sünder einen Choral blasen zu lassen. Als nun der Weltkrieg kam und einen Mann nach dem ändern unter des Reiches Fahnen rief, nicht anders als in diesem Kriege, da wurden auch der Musiker immer weniger, so dass es seine Not hatte, noch so etwas wie eine Kapelle auf die Beine zu stellen. Zu Tanz und Lust war es ja längst nicht mehr vonnöten, dafür galt es altem Brauch gemäß, so manchen Altveteranen, dessen Zeit um war, mit Hörnern und Trompeten zum Holzer Tore hinaus zu Grabe zu blasen. Ich weiß es nicht mehr genau, meine aber, im letzten Weltkriegsjahr hätten die alten Soldaten sich ohne das geblasene Lied vom guten Kameraden in die große Armee einreihen müssen: es waren nicht mehr genügend Musikanten vorhanden. So wurde denn auch das Turmblasen ein Opfer der Kriegsnot.
Niemand hätte deswegen dem greisen Kapellmeister von der Seminarstraße einen Vorwurf machen können, – der böse Krieg!
Umso mehr mögen sich eines Sonntagmorgens die Alfelder gewundert haben, als über ihre Dächer hinweg wieder das altvertraute „Gloria in excelsis Deo“ erklang, nicht anders, als würde es aus dem Himmel selbst ins grüne Leinetal hinabgeblasen und so hell und glaubensfroh wie in alten Zeiten. Die wenigsten jedoch wissen, dass damals im Turmwächterzimmer von St. Nicolai ein Greis und fünf Jungen standen, fünf hohlwangige, mit Steckrüben und Steckrübenmarmelade mühsam aufgezogene Jungen, jeder mit klammen Fingern die Ventile niederdrückend, leicht besorgt, dass kein Misston den Zorn August Krohmes errege oder gar die sonntäglich gestimmten Alfelder dort tief unten erschrecke. Ja, es war ein nicht alltäglicher Kriegshilfsdienst, zu dem uns August Krohme verpflichtet hatte!
Heute vor 26 Jahren war es: Am Himmelsgewölbe funkelten die Gestirne. Der Nachtwind kam vom Holzer Berge her und ließ die Turmschiefer klirren und klappern. Als wir die Lukenklappen mit Mühe entfernt hatten, sprang uns die Kälte erst richtig an, und wir sorgten uns um unsere empfindlichen Instrumente, in die wir von Zeit zu Zeit hineinhauchten, damit die Ventile leicht gängig bleiben möchten. Frierend warteten wir.
Da, – es war, als rühre sich tief im Leibe des Turmes ein gewaltiges Wesen, ächzend schien es seine eingerosteten Glieder zu bewegen: die von Meister Mundt betreute Turmuhr rückte ihre vergoldeten Zeiger auf die Zwölf, und zugleich hob sich der Hammer der Turmuhrglocke, die in einem kleinen haubenförmigen Anbau des Nordturmes in luftiger Höhe aufgehängt ist. Es schlug Mitternacht.
Undurchdringlich war die Finsternis zu unseren Füßen. Aber über uns standen in makelloser Reinheit die ewigen Sterne, unberührt von allem Elend, aller Schande, allem Leid und Schmerz der Welt.
Da gab unser Meister das Zeichen, und wir bliesen in das neue Jahr hinein:
„Allein Gott in der Höh sei Ehr
und Dank für seine Gnade,
Darum dass nun und nimmermehr
uns rühren kann kein Schade!“